Kunst als Erziehungsmittel und Erziehung als Kunst
Im Kunstunterricht der Mittelstufe bilden in der 7. Klasse Schattenlehre und perspektivisches Zeichnen zentrale Themen. Im Unterricht werden die bildnerischen Grundlagen in der Auseinandersetzung mit den Gestaltungselementen Punkt, Linie und Fläche, aber auch über erkennbare Korrespondenzen von Form und Farbe erforscht. Genaues Beobachten und präzises Arbeiten ist dabei unerlässlich. Auch um unrefl ektierte Vorstellungen als Vor-Urteile erkennen zu können und eine verbesserte eigene Urteilsfähigkeit auszubilden. Was Linie bleibt, was Fläche wird, was getönt, überholt, weggelassen, wiederholt, übergangen und intensiviert wird, wird erkenntlich und steigert den Bemerkens-Wert. Gesetzmäßigkeiten, deren Grenzen, ihre Wirkungen und Wandlungen zu erkennen und zu erproben, befähigt den Geist, über das Auge die Hand zu führen und das Inwendige auswendig wirksam werden zu lassen.
Beim gemeinsamen und großflächigen Bühnenbildmalen zum Klassenspiel der 8. Klasse werden die Jugendlichen motiviert, sich auf die Aufgaben, auf die Anderen und die Gruppe einzulassen. Sie werden in ihrem Selbstbewusstsein, der Beziehungsfähigkeit zum Gegenüber und der Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit im Miteinander gestärkt.
In der Medienkunde in der 9. Klasse wird die kritische Auseinandersetzung mit der Werbung und den Medien gepflegt und die Entwicklung einer Medienkompetenz gefördert. Die Erstellung u. a. eigener intermedialer Studien ist Bestandteil des Unterrichtes. Durch bewusste Betrachtung der reellen und virtuellen Bilderwelt, was real und was Schein ist, widmen wir uns der Ergründung ihrer ästhetischen Struktur und den sich daraus ergebenden ethischen Inhaltsfragen, dies zusammen ergibt dann eine verbesserte Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit visuellen Reizen, die in unsere Zeit der optischen Überflutung und des Bilderrausches von erheblicher Bedeutung ist für einen freien Menschen.
„Den Stoff sieht jedermann vor sich,
den Gehalt findet nur der,
der etwas dazu zu tun hat,
und die Form bleibt ein Geheimnis den meisten.“
(Goethe in „Maximen und Reflexionen“)
Das künstlerische Tun bietet den Jugendlichen eine Möglichkeit sich zu öffnen, Unbewusstes sichtbar und erkennbar werden zu lassen, eine eigene Haltung zu entwickeln, die Arbeit anderer und den künstlerischen Ausdruck aller Kulturen und Traditionen zu respektieren. Dies Tun fördert die Entwicklung von kreativen Fähigkeiten und man wagt sich danach dann auch phantasievoller, authentischer, mutiger und innovativer an schwierige Aufgaben.
Petroula Kirkou
25 Jahre Kunstunterricht an der Freien Waldorfschule Göppingen – Ohne Phantasie keine Pädagogik
„Nur wer sich wandelt, bleibt sich treu“ (Hermann Hesse)
Warum überhaupt zum 40-Jahr-Jubiläum der Freien Waldorfschule Filstal etwas schreiben? Vielleicht ein Innehalten, um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das unentwirrbare Knäuel der Zeit etwas zu besinnen? Ich wähle eine chronologische Perspektive mit persönlich-biografischen Aspekten.
Die Arbeit an einer Waldorfschule bedeutete mir nach dem Studium der Malerei und Anthroposophie eine Verbindung zum werdenden Menschen zu finden, gesellschaftliche Wirklichkeit durch Bildungsprozesse zu entwickeln. Es ging mir in der Kunst um die Gestaltung von Lebenswirklichkeiten. Kunst und Leben sollten ganz nah miteinander verwoben sein. Ein uralter Traum der Kunst, der bis zu Richard Wagners Philosophie des Gesamtkunstwerks zurückreicht. Die Kunst kann gesellschaftliche Realitäten entwickeln, die Soziale Plastik eines Josef Beuys, der Gedanken Rudolf Steiners umsetzte, leuchtet immer noch als ein Leitstern, auch nach 25 Jahren Tätigkeit. Ohne Phantasie kann es weder Pädagogik, Kunst, Wissenschaft noch Religion geben!
Schiller bescheinigte dem Menschen das Freisein nur da, wo er spielt, wo die Phantasie regiert! Wie diese Ideale in der Schulwirklichkeit bis in die Notwendigkeiten der bürokratischen Organisation leben können, ohne an den Felsen des Alltags zu zerschellen, ist vielleicht die größte Herausforderung für die Existenz eines künstlerischen Fluidums für die heutige Schulwirklichkeit der Waldorfpädagogik. Entwicklungsprozesse innerhalb einer Schule müssen sich messen lassen an der Phantasie, denn nur sie vermag den Zauber der Realitätsnähe zu entfalten, in dem eine sinnvoll spielerische Wandlung möglich wird.
Vergangenheit / Als ich vor 25 Jahren im Alter von 25 Jahren begonnen habe, mich mit wehenden Fahnen, in jugendlicher Begeisterung für die Anthroposophie, in das Abenteuer der Waldorfpädagogik zu stürzen, war die Welt noch in Ordnung. Es gab ein idealistisches Kollegium, die Gründungslehrer und Gründungseltern lebten und wirkten intensiv mit tiefer Verbundenheit und Verantwortung für die Anthroposophie. Dieses tief in Waldorfpädagogik und Anthroposophie wurzelnde Milieu schenkte mir Vertrauen und gab mir viele Anregungen, diese Form der Pädagogik sozusagen durch die Praxis direkt zu leben. Ich konnte mich als junger Kollege noch an vielen Gründungspersönlichkeiten und Waldorfpädagogen mit langjähriger Erfahrung orientieren, das war eine lehrreiche Zeit mit vielen wichtigen Erfahrungen, in der sich der jugendliche Idealismus bewähren hatte. Die Prägung durch eine goetheanistische Malschule konnte Anfang der achtziger Jahre noch direkt in den so genannten Lehrplan für Malerei der Waldorfschule integriert werden.
Gegenwart / Fast eine Generation später herrschen völlig neue Verhältnisse, nichts von diesen Traditionen kann mehr tragen, was zählt, ist die kontinuierliche Arbeit einer Individualisierung. Anthroposophie und Waldorfpädagogik müssen durch das Nadelöhr einer durch den einzelnen Menschen individualisierten Anthroposophie hindurch, um zeitgemäß zu sein. Kein Rezept, nichts was an Seminaren standardisiert vermittelt wird, entwickelt wirklich die Substanz der Phantasie, welche den Zauber der Verwandlung enthält! Was bleibt, ist die reine Gegenwart des Ich, die unmittelbare Geistesgegenwart, die Wahrnehmung dessen, was in den Schülern lebt, die Wahrnehmung des anderen Menschen und die situative Handlung, so falsch und unvollkommen sie oft sein mag. Diese Herausforderung stellt sich täglich im Besonderen im Kunstunterricht. Es geht um sich entwickelnde Bilder, prozessuale und personale Bildungserfahrungen zur Kreativität, die heute in vielen Berufsfeldern zur Schlüsselkompetenz geworden sind, die aber durch normierte Bildungspläne oft eingeschränkt werden. Wie entsteht ein Milieu im Raum, in dem sich die Schüler selbsttätig in eine phantasievolle Atmosphäre begeben können?
Meist sind es in jeder Stunde nur wenige Augenblicke, in denen solch eine Stimmung entsteht und ein Zauber des Gelingens spürbar sein und Hoffnung geben kann.
Zukunft / Das Eintauchen in solch Lebensprozesse, in ein Lebensfluidum der Phantasie, wünsche ich dem Kunstunterricht der Waldorfpädagogik allgemein und der Freien Waldorfschule Filstal in allen Arbeitsfeldern der Schule auch für die nächsten 25 Jahre.
Henning Hauke