Das Vertraute verlassen, um Neues zu entdecken
Die Klassenlehrer an unserer Waldorfschule unterrichten im Idealfall von der ersten bis zur achten Klasse. Die Vorbildung der einzelnen Kollegen ist ganz unterschiedlicher Art, alle haben jedoch das Waldorflehrerseminar, meist in Stuttgart, besucht und dort eine Ausbildung zum Waldorflehrer absolviert. Klassenlehrer unterrichten also in der so genannten Unterstufe, das sind die Klassen 1 bis 4 und in der Mittelstufe ab Klasse 5. Neben der reinen Unterrichtstätigkeit werden vom Klassenlehrer Elternabende einberufen und durchgeführt. Der Klassenlehrer lädt seine Fachkollegen zur Klassenkonferenz ein, auf der über Belange gesprochen wird, die speziell diese Klasse betreffen. Der Klassenlehrer ist in erster Linie auch Gesprächspartner für die Eltern.
In der ersten Klasse kommen die Kinder in eine ganz andere Welt, alles ist viel größer als im Kindergarten, die Lehrer und auch die Unterrichtsfächer an einem Vormittag wechseln. Der Klassenlehrer unterrichtet jeden Tag von 8:05 Uhr bis 9:40 Uhr, im so genannten Hauptunterricht. In der ersten und der zweiten Klasse wird Schreiben, Rechnen und Formenzeichnen im Hauptunterricht unterrichtet. Jede Epoche dauert zwei bis vier Woche, das heißt, in dieser Zeit wird jeden Morgen Schreiben oder Rechnen oder Formenzeichnen unterrichtet. Der Klassenlehrer in der ersten Klasse hat meistens die Möglichkeit, seine Schüler durch den Vormittag zu begleiten, was besonders ängstlicheren Kindern eine enorme Sicherheit gibt.
In den ersten vier Schuljahren erweitert das Kind sein Erfahrungsumfeld und erreicht ein neues Verhältnis zur Welt. Um das 9. Lebensjahr vollzieht sich ein Wandel. Hat das Kind sich bis dahin als selbstverständlichen Teil der Welt gesehen, so steht es von nun an der Welt betrachtend gegenüber. In den ersten drei Schuljahren ist das Tätigsein das Wesentliche. Da passt es sehr gut, wenn im dritten Schuljahr die Ackerbauepoche, die Handwerkerepoche und die Hausbauepoche als erste Sachkundeepochen hinzukommen. Von der vierten Klasse an stellt sich dann die Welt, vom Lehrer ins Bild gesetzt, dem Kind gegenüber. Die Heimatkunde und die erste Tierkunde kommen hinzu.
Im fünften Schuljahr verändert sich dann der Morgenspruch, der jeden Morgen gesprochen wird. „Ich schaue in die Welt…“ heißt es jetzt und tatsächlich kann sich das Kind immer besser der Welt gegenüber stellen. Aus der Heimatkunde wird die Erdkunde, zunächst einmal für Mitteleuropa, es kommt die Geschichte der alten Kulturen hinzu, die Pflanzenkunde und eventuell eine zweite Tierkundeepoche. Auch im Rechnen vollzieht sich ab dem vierten Schuljahr ein Wandel, die Brüche kommen dazu, mit ihnen wird dann auch gerechnet.
Ein neuer bedeutender Wandel tritt in der 6. Klasse ein, wenn die Kinder 12 Jahre alt werden. Nun können sie kausal denken, es wird für die Kinder möglich, einen Vorgang genau zu beobachten und dann auch zu beschreiben, dies macht man sich in der Physik zu Nutze. Im Geschichtsunterricht beschäftigt sich eine sechste Klasse mit den Römern. In der Mathematik wird das Zinsrechnen eingeführt.
Nun kommen die Kinder in die 7. Klasse und auch immer weiter in die Pubertät. Die Welt des Kindes wird wackeliger, das vertraute Ufer wird immer weiter verlassen und neues Land ist noch nicht in Sicht. Die Entdecker, die ins weite Meer fuhren, fühlten sich wohl ähnlich. Deshalb wird auch dieses Thema ausführlich im Geschichtsunterricht behandelt. In der Physik werden das Beobachten, Beschreiben, Charakterisieren und das Schlussfolgern weiter geübt. Daneben treten die verborgen ablaufenden Vorgänge der Chemie, elementare Umwandlungen wie Verbrennungen, Säuren, Laugen und Salzbildung. Im Deutschunterricht führt nun der angereicherte grammatikalische Formenreichtum zu besseren Ausdrucksmöglichkeiten bei Aufsätzen, Beschreibungen und Berichten. In der Mathematik werden positive und negative Zahlen behandelt, das Potenzieren, erstes Radizieren und die Buchstabenrechnung, die mit der Zinsrechnung ihren Anfang genommen hat, setzt sich abstrakter werdend fort.
In der achten Klasse reicht dann die Geschichte bis zur Gegenwart heran, die Erdkunde befasst sich mit der Welt und ihren Kontinenten. Die Schüler studieren ein Klassenspiel ein und schreiben in der Regel eine Jahresarbeit, in der sie all ihre erworbenen Darstellungsmöglichkeiten einbringen können und selbstständig ein Thema bearbeiten.
Birgit Kohn