Das romantische Mühlental wird in Winkel und Zentimeter zerlegt
Seit einigen Jahren fährt unsere elfte Klasse nach Terenten/Südtirol, um dort in einem 10-tägigen Praktikum einen Bereich des „Mühlentales“ zu vermessen – und immer wird die Frage gestellt: „Wozu braucht man das?“ In den Jahren 1921/22 wurde an der Waldorfschule in Stuttgart das erste Mal eine zehnte Klasse unterrichtet. In den Konferenzmitschriften findet man die Angabe Rudolf Steiners, dass neben Mathematik und den Naturwissenschaften für die zehnte Klasse das Feldmessen tritt. Es soll den Schüler in die Vermessungskunde einführen sowie in die Darstellung einfacher Landschaftssituationen.
Bei den Schülern taucht in diesem Lebensabschnitt, in dem die Eltern und Lehrer schwierig werden, immer deutlicher die Frage nach dem Sinn des Lebens auf. In dieser Zeit der fortschreitenden Selbstfindung steht die Feldmessepoche.
An der Freien Waldorfschule Filstal findet das Feldmessen zu Beginn der 11. Klasse statt, meist im Oktober. Die Schüler fahren mit dem Reisebus morgens um 6 Uhr in Göppingen los und erreichen die Pension „Raffalthof“ von Familie Schmid in Terenten meist um 13 Uhr. Dort angekommen, wird das Gepäck auf die Zimmer gebracht. Von der Pension aus erreicht man das Messgebiet, das auf ungefähr 1400 m ü. NN liegt, zu Fuß in einer halben Stunde.
Beim Feldmessen wird ein Polygonnetz aus ca. 30 Festpunkten über das Messgebiet gelegt, anschließend werden die Winkel, die kürzeste Entfernung zwischen den Punkten und die Höhen gemessen. Von den Verbindungslinien zwischen den Festpunkten werden die Einzelheiten, z. B. Häuser, Wege und Vegetation der Landschaft mit Hilfe von Maßbändern und Doppelpentagonprismen vermessen und auf Skizzen festgehalten. Nachdem das Polygonnetz auf Transparentblätter übertragen wurde, werden die skizzierten Einzelheiten der Landschaft zunächst mit Bleistift und dann mit Tusche im Maßstab 1:1000 gezeichnet. Das Erstellen der Karte erfordert gestalterische wie auch zeichnerische Fähigkeiten. Jede Gruppe steuert ihren Anteil an der Vermessung bei und wo nicht exakt gemessen wurde, muss dies wiederholt werden, dabei werden soziale Prozesse durchlebt. Die Schüler erleben, dass jeder Einzelne zum Gelingen beitragen muss und nicht der Lehrer berichtigt, sondern das Messergebnis. Wenn es gelingt, das Praktikum nicht nur als Freizeitgestaltung zu betrachten, kann die Feldmessepoche für Schüler eine große Bedeutung erlangen.
Daniel Grass