Sprache ist hörbare Gebärde – Gebärde ist sichtbare Sprache
Sprache und Gesang haben in der Menschheitsgeschichte, -entwicklung denselben Ursprung. Nicht zufällig bezeichneten sich deutsche Dichter noch im 19. Jahrhundert auch als „Sänger“.
Den musikalischen, den Sprachfluss und -atem fördernden Bereich der Sprache schenken uns in erster Linie die Vokale (a, e, i, o, u), inkl. Doppel- und Umlaute (au, äu, ei, ai, eu, ä, ö, ü).
Die plastischen, festeren Konturen verdanken wir den Konsonanten, die einem Sprachgebilde stärkere Klarheit, „Begreifbarkeit“ verleihen können.
Während der Vokalismus wiederum stärker dem Ausdruck des Gefühlslebens nahe steht, er lässt uns auch stärker mit der Welt verschmelzen, hat der Konsonantismus die größere Nähe zur Dinglichkeit der Welt, stellt uns auch gedanklich der Welt gegenüber. Selbstverständlich gibt es mannigfache Differenzierungen innerhalb beider Pole. Es ist ein großer Unterschied in der Wirkung, ob ich mich bei den Konsonanten mehr im Lippen- (w, b, p, m, f), Zahn-, Zungen- (n, l, d, t, s, z) oder Rachenbereich (k, g, ch, ng) bewege, ob ich Stoßlaute (d, t, k, g, p, b) oder Blaselaute (s, sch, f, w, h, ch) bilde.
Ein anderes sind die verschiedenen Rhythmen der Sprache, vor allem in der Lyrik. Gehe ich innerhalb der so genannten griechischen Rhythmen von den Rhythmen aus, die mit einer Kürze beginnen, so bringe ich belebenden, aufmunternden, vorwärtsdrängenden, u.a. auch aggressiven Charakter ins Sprechen (Jambus v – , Anapäst v v – , Amphibrachus v – v); greife ich zu Rhythmen, die mit einer Länge beginnen, erlebt man beruhigende, abdämpfende, und u.a. auch lastend-tragische Tendenzen (Trochäus – v, Daktylus – v v, Cretikus – v –). Der musikalische Pol des Sprechens kommt durch die griechischen Rhythmen stärker zum Ausdruck (Wechsel von Längen und Kürzen).
Aus dem germanischen Sprachstrom, in dem u.a. auch die deutsche Sprache wurzelt, entwickelte sich die Polarität: Betonte Silbe (oder Hochton) – unbetonte Silbe (Tiefton), was im Stabreim der früheren germanischen Völker durch gleiche Anlaute noch gesteigert wurde, z. B. „Wild war Wingthor, als er erwachte, . . . Der plastisch-rhythmische Pol der Sprache wird hier noch einmal besonders unterstützt.
In der Sprachtherapie gilt es, sich solche Grundlagen zu erarbeiten und dann therapeutisch, auf die jeweiligen Schwierigkeiten der Schüler bezogen, damit umzugehen. Das heißt z. B., welche seelische Problematik liegt beim Lispeln vor (zu wenig Distanz zum Gegenüber, zur Welt), wie bringt man mehr Sprachbewusstsein in den Zahn-, Zungenbereich; wie wird es durch bestimmte Gebärden unterstützt, begleitet bzw. hervorgelockt. Oder: Wie lasse ich den Schüler auftreten beim Sprechen eines „k“ innerhalb einer Sprachübung, eines Gedichtes; wobei dieser Laut u.a. hilft, sich gut auf der Erde zu verankern, Selbstbewusstsein, seelische Kraft zu entwickeln.
Ohne aufmerksames Hören – innerlich und äußerlich – kein gutes Sprechen. Ohne bewusstes Erfassen der Laute und Rhythmen keine rechte Erweiterung des geistig-seelischen Horizontes!
Die Sprache bietet mannigfache Möglichkeiten, heutigen Einseitigkeiten in geistiger, seelischer und auch körperlicher Hinsicht entgegen zu wirken – wenn sie nicht nur als praktisches Verständigungsmittel gesehen wird, sondern als zunächst unhörbares, unsichtbares Wesen, das uns umgibt, durchdringt und durch unseren Körper, unsere Sprechwerkzeuge hörbar, als Geste auch sichtbar, „laut“, wird.
Manfred Tächl