Mathematik

Mit Gewissheit heitere Verhältnisse

Den Mathematikern gefällt vor allem ein Zitat des berühmten Astronomen Johannes Kepler: „Die Mathematik  allein  befriedigt  den  Geist  durch  ihre  außerordentliche  Gewissheit.“ Den  Schülern  spricht  eher  Johann Wolfgang von Goethe aus der Seele: „Mit Mathematikern ist kein heiteres Verhältnis zu gewinnen.“
Warum müssen  alle  Schüler,  an  jedem  beliebigen  Ort  der  Welt,  dieses  so  stark  polarisierende  Fach  lernen?  Wozu braucht man das – etwa für das Leben?

Mathematik an der Waldorfschule am Beispiel der Kombinatorik in Klasse 9

Karl Friedrich Georg, ehemaliger Waldorflehrer in Marburg und am Kräherwald in Stuttgart, begründet die Epoche folgendermaßen: „Die 9. Klasse steht unter dem Zeichen des Aufbruchs zu allem Neuen. Die äußere Welt soll als objektive Tatsache kennen gelernt werden. Vergleichbar mit der Geschichte ist der Mensch nun in der Phase der Entdeckungen und Erfindungen, in denen sich seine neu erwachten Gedanken- und Kombinationskräfte ausleben . . . Im Umgang mit den verschiedenen denkbaren Möglichkeiten von Anordnungen kann der Schüler verschiedene Erfahrungen machen: Er erlebt, dass sein folgerichtiges Denken ihn in Bereiche führt, die über die Begrenzungen der erlebten Welt hinausgehen, er kommt in eine Scheinwelt . . . und bleibt dabei dennoch in den Bahnen des grundsätzlich Erkannten.“

Die römischen Zahlen können als Grundlage für frühere Zahlensysteme hergenommen werden. Sie stehen als Bild dafür, wie der Mensch anfing zu zählen und es schon dazu gebracht hat, Zeichen für das Aufschreiben zu verwenden. Schnell wird deutlich, wie schwierig es ist, mit den römischen Zahlen zu rechnen, bzw. wie mühselig es ist, große Zahlen mit römischen Zahlen aufzuschreiben. Das römische Zahlensystem ist nach dem additiven Prinzip gebildet, d. h., wenn beispielsweise die Zahl 5232 geschrieben werden soll, heißt die römische Zahl MMMMMCCXXXII. Jedes Zeichen steht für einen bestimmten Wert.

Leonardo  von  Pisa  (ca.  1170-1250),  auch  bekannt  als  Fibonacci,  hatte  das  Glück,  von  einem  arabischen Lehrer  unterrichtet  zu  werden  und  die  indischen  (oder  auch  arabischen)  Ziffern  kennen  zu  lernen.  Unser heutiges Zahlensystem ist komplett anders aufgebaut als das römische Zahlensystem. In der obigen Zahl 5232 bedeutet die erste „2“ etwas anderes als die letzte „2“. Je nach Stelle, haben die Ziffern verschiedene Bedeutungen. Außerdem gibt es die Ziffer „0“, welche im römischen Zahlensystem nicht vorkommt.

Im Jahre 1202 erschien Fibonaccis Buch Liber Abaci (das Abakus-Buch; Abakus = Rechenbrett). Es wurde ein großer Erfolg und umfasste in 15 Kapiteln verschiedene Gebiete der Arithmetik und behandelte gleich im  1.  Kapitel  die  indischen  Ziffern.  Dessen  ungeachtet  wurden  im  Bankwesen  bis  ins  15.  Jahrhundert  die römischen Zahlen verwendet, da durch extra Nullen oder dem Radieren derselben leicht Fälschungen hätten entstehen können.

Dennoch wurde Fibonacci hauptsächlich durch sein berühmtes Kaninchenproblem bekannt, welches in der 2. Auflage seines Buchs veröffentlicht wurde. Folgende Kaninchenpopulation entwickelt sich dabei aus einem Urkaninchenpaar:

1. Jedes Paar Kaninchen wirft pro Monat ein weiteres Paar Kaninchen.
2. Ein neugeborenes Paar bekommt erst im zweiten Lebensmonat Nachwuchs (die Austragungszeit reicht von einem Monat in den nächsten).
3. Die Tiere befinden sich in einem abgeschlossenen Raum („in quodam loco, qui erat undique pariete circundatus“), sodass kein Tier die Population verlassen und keines von außen hinzukommen kann.

Im  Unterricht  entsteht  nun  die  Frage  „Wie  viele  Kaninchenpaare  sind  nach  12  Monaten  vorhanden?“  Zunächst  ist  diese  Fragestellung  unabhängig  von  den  Mathematikkenntnissen.  Dementsprechend  entwickeln die Schüler verschiedene Herangehensweisen. Die einen Schüler versuchen grafische Lösungen zu finden, andere bleiben bei abstrakten Zahlen. Manche Schüler arbeiten lieber alleine, weitere versuchen in Arbeitsgruppen Lösungen zu diskutieren. Eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit ist ein möglichst freier Rahmen, damit  die  Schüler  selber  entdecken  können,  vgl.  George  Pólya  (1887-1985,  Mathematiker), Vom  Lösen mathematischer Aufgaben (Birkhäuser, Basel): 10 Gebote für Lehrer, 2. Gebot: „Man soll über das Wesen des Lernens Bescheid wissen: Die beste Art, etwas zu erlernen, ist, es selbst zu entdecken.“
Am Ende des Unterrichts entsteht an der Tafel die Fibonacci Folge:

1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144 . . .

Die Fibonacci Zahlen sind nicht nur für das Kaninchenproblem interessant, sondern es verbergen sich dahinter viele erstaunliche Zusammenhänge.
Teilt man beispielsweise immer zwei aufeinander folgende Zahlen

mathe_formel_Fibonacci

so ist das Verhältnis abwechselnd etwas größer und kleiner als das Verhältnis des Goldenen Schnitts¹:

mathe_formel_Fibonacci2

Mit den Schülern könnennoch sehr viele weitere Besonderheiten der Folge gefunden werden, die aber den Rahmen des Artikels sprengen würden. Auf ähnliche Weise lässt sich das Pascal’sche Dreieck erkunden. Oder aber die Fragestellung: „Ihr seid 38 Schüler in der Klasse. Wie viele verschiedene Möglichkeiten gibt es, euch in verschiedenen Anordnungen zu setzen?“

Wichtig  ist,  dass  die  Schüler  Wege  finden,  wie  sie  die  Aufgaben  bearbeiten  können.  Der  Lehrer  hat  die Aufgabe,  dies  zu  begleiten.  Die  mathematischen  Gesetze  werden  gemeinsam  entdeckt  und  durch  Übung gefestigt.

Mathematik in der Oberstufe

Es  gibt  weitere  Besonderheiten  der  Mathematik  an  der  Waldorfschule.  Vieles  lässt  sich  in  der  Literatur nachlesen, erwähnt seien nur noch zwei wesentliche Epochen der 10. und 11. Klasse: Die Trigonometrieepoche mit  dem  Abschluss  des  Vermessungspraktikums  (siehe  entsprechender  Bericht  in  diesem  Heft)  und  die projektive Geometrie als Erweiterung der euklidischen Geometrie, welche an den staatlichen Schulen nicht unterrichtet wird.

Eine weitere Ausprägung ist der späte Einsatz des Taschenrechners. Die Schüler sollen zunächst im Kopfrechnen und in den schriftlichen Rechenmethoden ausgebildet werden. Darüber hinaus bekommen sie Bekanntschaft von  mathematischen  Tabellen  wie  z.  B.  einer  Logarithmus-Tafel  oder  von  Quadratzahlentabellen.  Erst  im Laufe der 10. Klasse wird ein wissenschaftlicher Taschenrechner eingeführt. Der grafikfähige Taschenrechner wird ausschließlich in der 13. Klasse für das Abitur verwendet.

Die  Arbeit  in  Epochen  ermöglicht  den  Schülern,  zeitweise  intensiver  einzusteigen.  Wichtig  ist  aber  auch ein  kontinuierliches  Üben.  Dies  ermöglichen  wöchentliche  Fachstunden  in  kleineren  Gruppen,  sodass  auf die  Schwierigkeiten  eingegangen  werden  kann.  Insgesamt  bietet  der  Waldorflehrplan  abwechslungsreiche Inhalte. In jedem Schuljahr wechseln sich algebraische und geometrische Epochen ab. Dadurch können die Schüler jederzeit wieder neu einsteigen.

¹ Beim Goldenen Schnitt handelt es sich um ein Streckenverhältnis. In der Natur kommt in vielen Bereichen dieses Verhältnis vor. Angewandt wird der Goldene Schnitt u.a. in den zweidimensionalen Bildkünsten, aber auch in Plastik und Architektur.

Bernd Leibfarth