Deutsch in der Oberstufe

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Schwarz-weiß wie die Elster

Scharf, bitter, verletzend kann es sein, das Urteil des 9. Klässlers gegenüber seinen Lehrern und seiner Umwelt – und es kann dennoch so gerecht sein in der Erkenntnis, dass die Welt so ungerecht ist: die Erwachsenen erlauben sich, ihm zu erklären, wie er sich zu verhalten und was er zu lernen hat, erscheinen als Machthaber der Moral. Und dann der genaue Schülerblick in und auf die Welt – weshalb soll ich lernen, was mich nicht interessiert, weshalb kommen an Europas Grenzen Tausende Flüchtlinge zu Tode und alle sprechen von Nächstenliebe, weshalb wird die Umwelt immer weiter zubetoniert, weshalb sprengen Fanatiker sich und andere in die Luft . . . Die unglaubliche Gegensätzlichkeit der Welt macht den Schülern schwer zu schaffen. Die Unterrichtsstoffe in Deutsch über die gesamte Oberstufe hinweg sollen dem Schüler Orientierung, Stärke und Selbstbewusstsein geben, um sich in seinem oftmals allzu impulsiven Gefühlsleben zurecht zu finden und um die Welt in all ihrer Fülle zwischen großer Liebe und heftiger Verzweiflung als Geschenk empfinden zu können. Schwarz und weiß ist die Elster – Hölle und Himmel haben beide teil am Menschen, heißt es in „Parzival“.

9. Klasse
Zwei Werke von Schiller und Goethe stehen meist im Mittelpunkt, z. B. Schillers Erzählung „Verbrecher aus verlorener Ehre“, in der mit geradezu chirurgischem Blick der gesellschaftliche Abstieg eines jungen Mannes geschildert wird. Kennzeichnend für ihn: stets betont er die Schuld seiner Mitmenschen, seiner Umwelt, der Gesellschaft für sein Schicksal. Was aber kann er machen, um seinen Abstieg zu beenden? Wo liegt seine ganz persönliche Verantwortung – ein vielschichtiges Thema für die 9. Klasse. Das zweite Werk kann z. B. Goethes Drama „Egmont“ sein – ein Graf verzweifelt fast am Spagat zwischen seinen Verpflichtungen gegenüber seinem hartherzigen König und den Bedürfnissen seines Volkes. Nach so viel Tragik kommt die Humorepoche mit dem befreienden Blick auf alle Aspekte des Humors und seine Kraft, die Verzweiflung zu überwinden und einen Neustart zu wagen.

10. Klasse
Mit einem intensiven Einstieg in die Welt altisländischer Wikingererzählungen, in denen es viel um Sippe, Gefolgschaft, Rache und Ehre geht, ist die Grundlage geschaffen für das Nibelungenlied – das grandiose Epos um Siegfried und Kriemhild, um Gunther und Brünhild. Ihr Hass, ihre Rachsucht, ihre egozentrische Sicht, ihre Unfähigkeit zur Vergebung bringt allen den Tod. Ist diese Welt ohne christliche Werte endgültig untergegangen, wird nie wieder das brutale Recht des Stärkeren herrschen? Nein, wie die Klasse bei der Lektüre von „Jugend ohne Gott“ herausarbeiten kann, in der Ödön von Horváth die perfiden Mechanismen (je)der Diktatur darlegt.

11. Klasse
Parzival – der junge, kraftstrotzende, in der Einsamkeit aufgewachsene Jugendliche geht in die Welt hinaus, um Ritter zu werden. In seiner Einfältigkeit erlebt er bittere Demütigungen und grandiose Erfolge, er lernt die schwarze und die weiße Seite des Lebens kennen und entwickelt sich zu einem Menschen, der sich selbst in all seinen Facetten erkennen und annehmen kann. Der geschilderte Entwicklungsprozess eines Außenseiters ist trotz seiner mittelalterlichen Kulisse faszinierend zeitlos und macht auch für den Jugendlichen des Smartphone-Zeitalters die Probleme des Hineinwachsens in ein selbstbestimmtes und verantwortungsbewusstes Leben deutlich.

12. Klasse
Die alle paar Jahre wechselnden Lektüren für die Mittlere-Reife-Prüfung und die Fachhochschulreife-Püfung, die nach ca. 2/3 des Schuljahres anstehen, stehen im Mittelpunkt. Textanalyse, Interpretation, produktives Schreiben bzw. gestaltende Interpretation sind die Herausforderungen. Feste Größe zumindest für die FHR-Gruppe, ist Goethes Drama um den Wissenschaftler „Faust“ – ein Mensch, der trotz des jahrzehntelangen Studiums verschiedenster Fachrichtungen immer noch und heftiger als je zuvor um letztendliche Erkenntnis ringt. Wie weit geht und wie weit darf die Wissenschaft gehen, um alle Fragen zu beantworten? Wo liegen moralisch-ethische Grenzen? Fragestellungen, die den Schülern einen intensiven, oft auch neuen Blick auf unsere stark materialistisch-industriell geprägte Gesellschaft ermöglichen.

13. Klasse
Abiturvorbereitung heißt: Die in Klasse 12 entwickelten Fähigkeiten werden verfeinert, die literarischen Texte sowie die Sachtexte anspruchsvoller. Für das kommende Abitur 2016 sind vom Staat als Pflichtlektüre vorgegeben Georg Büchners Drama „Dantons Tod“, Max Frischs Roman „Homo faber“ sowie Peter Stamms Roman „Agnes“. Der Spagat zwischen gewohnter Wissens- und Erkenntnis-Vermittlung an der Waldorfschule und den staatlichen Anforderungen in der Abiturprüfung ist nicht einfach. Aber: die guten Ergebnisse beweisen, dass Pädagogik und Lehrplan der Waldorfschule ihre Stärke und Berechtigung haben.

Andreas Müller
Deutsch und Geschichte